Adieu bis November – ich verabschiede mich in einen speziellen Rückzug: ins internationale, kombi-generationale und transreligiöse Retreat in Auschwitz-Birkenau.
Meine intensive Beschäftigung mit dem Schicksal deutscher Kriegskinder in den letzten Jahren in Versöhnungsseminaren und biografischen Schreibwerkstätten (die Erfahrungen daraus habe ich in einem Buch ausgewertet, das demnächst erscheinen wird) hat mich an diesen Punkt geführt. Ich will in Auschwitz, dem ultimativen Ort der Opfer und der Täter, Zeugnis ablegen von den Kindern des „Täter-Volkes“, die durchweg Opfer waren, aber ihren Platz zum Erinnern und Trauern und Versöhnen nie fanden – bis heute, ganz langsam, und für viele längst zu spät. Und ich will die Spaltung auflösen. Manche Kriegskinder, denen ich erzählte von meinem Vorhaben, reagierten enttäuscht: „Aber da haben wir doch eben keinen Platz, da geht es doch nur um die Opfer!“ Vielleicht kann ich mit meiner Gegenwart dort den Graben zwischen den Opfern für einmal überspringen und damit zur Heilung beitragen.
Aber das ist nicht alles. Ich spüre die Krise unseres Finanzsystems, unserer Glaubenssysteme und der Konventionen unseres Zusammenlebens in den Knochen. Und ich weiß nicht, ob ich stark genug bin, um in der schon beginnenden Zeit der massiven Umwälzungen zu handeln und vor allem Schwächeren zu helfen, Suchenden Orientierung zu geben. Auch deshalb gehe ich nach Auschwitz: Da ist das Leiden absolut. Jammern auf hohem Niveau, Klagen aus der Komfortzone heraus, Schuldzuweisungen und Tabu-Pflege – das funktioniert alles nicht mehr.
Zeugnis ablegen heißt: im Unangenehmen ausharren, nicht davonlaufen. Die Zukunft kommt; wo sie schöner wird als das Jetzt, können wir uns freuen, wo sie härter wird, müssen wir Zeugnis ablegen.
„In Auschwitz bin nicht ich der Lehrer“, sagt Bernie Glassman, der Initiator und spirituelle Begleiter dieser Retreats, in seinem gerade mit Konstantin Wecker gemeinsam publizierten Buch, „sondern der Ort selbst ist der Lehrer. Und er ist ein unerbittlicher Lehrmeister, der Menschen in Situationen führt, in denen sie gar nicht anders können als zu lernen und zu verstehen… Die Menschen, die nach einer Woche Auschwitz verlassen, sind nicht mehr die gleichen wie zuvor.“
Ich werde mich dann mit tatkräftigerer Entschiedenheit, mit gestärkter Klarheit Mitte November zurückmelden. Wer oder was auch immer „ich“ dann ist.